«Warum arbeitet die Kantonsverwaltung eigentlich nicht nach den Methoden des Teams SEGEL?» – Mein Praxisbesuch im Unterricht mit Co-Forschenden des Teams SEGEL an der OST – Fachhochschule Ostschweiz
Text: Tobias Bockstaller
Als Verantwortlicher Fachliche Grundlagen von AvenirSocial, dem Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz besuche ich regelmässig verschiedene Organisationen in den unterschiedlichen Bereichen (z.B. in der betrieblichen Sozialarbeit bei Proitera), in denen Fachpersonen der Sozialen Arbeit arbeiten. AvenirSocial vertritt die Interessen der Fachpersonen mit einer tertiären Ausbildung in Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokultureller Animation, Gemeindeanimation, Kindheitspädagogik und Leitung Arbeitsagogik. In diesem und nächstem Jahr ist das Schwerpunktthema des Berufsverbands Partizipation. Darum passt mein Besuch beim Team SEGEL gerade perfekt, um meine theoretischen Auseinandersetzungen an der Praxis zu messen. Handelt es sich bei SEGEL doch um ein mehrfach ausgezeichnetes Partizipations- und Selbstbestimmungsprojekt. Die Abkürzung SEGEL steht dann auch für «Selbstbestimmte Entscheide – GEmeinsame Lösungen».
Als Einstiegsübung in den Unterricht stellten sich alle teilnehmenden Referierenden, Studierenden und Gäste gegenseitig die Fragen eines Selbstbestimmungsbingos. Die Fragen drehten sich rund um die eigenen Erfahrungen mit Selbstbestimmung. Dabei fiel mir auf, dass ich mir kaum eine dieser Fragen bereits ernsthaft gestellt habe. Als Mensch mit sehr vielen Privilegien musste ich dies bisher auch kaum tun. Ich darf abstimmen, selbst entscheiden was ich einkaufen und essen möchte und mit wem ich meine Zeit verbringe. Ich fühlte mich nicht oft fremdbestimmt. Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen im Team SEGEL, die mehr Fremdbestimmung erfahren haben, viel besser wussten, wo und warum Selbstbestimmung für sie wichtig ist. Schnell fiel auch auf, wie wichtig Humor für die Co-Forschenden von SEGEL ist. So wurde vom ersten Moment an viel gelacht. Mein Eindruck war, dass für die Studierenden dieser unbeschwerte Umgang etwas irritierend war, da sie eine solche Lockerheit aus ihrem Studium nicht gewohnt sind.
Wie arbeitet SEGEL?
Segel erstellt unter anderem Arbeitsinstrumente für die Praxis. Dabei ist insbesondere der Gesprächsleitfaden hervorzuheben. Er soll es Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichen gemeinsam mit Fachpersonen und Angehörigen ethische Dilemmata zu bearbeiten. Auf der Webseite des Projekts werden Dilemmata als «Fragen die plagen» zum Thema Selbstbestimmung beschrieben. Ein entscheidendes Element zum Gelingen der Zusammenarbeit sind faire Bedingungen was Löhne, Arbeitszeiten und Qualitätsansprüche betrifft. Dies bedeutet teilweise auch, dass man sich als Forschungsgruppe mit Fragen der Arbeitsgeschwindigkeit, dem Vorgehen nach Plan (wie ist dieser Plan gestaltet, wie viel Flexibilität lässt man zu) und genügend Zeit für Erklärungen auseinandersetzt.
Jedes Vorgehen hat seine Grenzen. Auch das Team SEGEL muss sich die Frage stellen, welche Menschen sie mit ihrem Vorgehen ausschliessen beziehungsweise was den Zugang erschwert. Das Team von SEGEL ist sich sehr bewusst, dass zum Beispiel Menschen mit «starken» Beeinträchtigungen wie beispielsweise im sprachlichen Ausdruck einen erschwerten Zugang haben. Dieser offene Umgang mit den Grenzen der eigenen Methode ist Grundvoraussetzung für die Arbeit von SEGEL.
Beispielhaftes Vorgehen zur Qualitätssicherung
In der konkreten Arbeit der Co-Forschenden laufen viele Fragestellungen auf das Dilemma «Professioneller Auftrag vs. Selbstbestimmung» hinaus. Einige der grossen inhaltlichen Themen sind Alkoholkonsum, Ernährung und Sexualität. Es stellt sich dabei meist die Frage: Welche Einschränkungen haben Schutzbestimmungen für Einzelne auf alle Bewohnenden einer Institution? Die Co-Forschenden zeigten dies eindrücklich am Beispiel des Zugangs zum Kühlschrank auf. Darf der Zugang für alle eingeschränkt werden, indem zum Beispiel der Kühlschrank abgeschlossen wird, aufgrund des ungesunden Verhaltens einer einzelnen bewohnenden Person? In solchen Fällen stellt sich mir die Frage: Steht der professionelle Auftrag hier im Widerspruch zur Selbstbestimmung? Falls ja, dann wäre in diesem Fall der professionelle Auftrag nicht mehr als der reine Schutz der betroffenen Personen. In der Praxis müssen sich die Fachpersonen aber damit auseinandersetzen, wie stark sie in solchen Situationen den Schutzgedanken in den Vordergrund stellen und wo dabei der Präventionsgedanke bleibt.
Im Prozess, den die Bewohnenden einer Institution gemeinsam mit den Fachpersonen zur Beantwortung solcher Fragen anhand des Gesprächsleitfadens durchlaufen, wird immer wieder abgestimmt. Um möglichst zu garantieren, dass alle Teilnehmenden wirklich ihre eigene Meinung einbringen können, werden Abstimmungen geheim durchgeführt. Dies aus dem Bewusstsein heraus, dass in Gruppen mit vermeintlich unterschiedlichen Hierarchien (explizit oder implizit) immer Druck besteht, sich auf eine bestimmte Art zu äussern.
Das demokratische Vorgehen des SEGEL-Teams, unter bewusstem Einbezug solcher Machtgefälle und deren Auswirkungen, sollte als Vorbild für alle Ethik-Gremien gelten völlig unabhängig ihrer Zusammensetzung. Es zeigt die Möglichkeit auf, wie in einem solchen Gremium Fachpersonen, Forschung und Adressat:innen erfolgreich auf Augenhöhe arbeiten können. Sollte nicht die Qualität jeder Organisation der Sozialen Arbeit von einem Gremium, dass nach dem Gesprächsleitfaden des Teams SEGEL arbeitet, überprüft werden?
SEGEL für alle Akteur:innen der Sozialen Arbeit
Ich bedanke mich herzlich beim SEGEL-Team für die spannenden Einblicke und gebe ihnen mit, ihre Arbeit, ihre Methoden mit breiter Brust zu vertreten und einzufordern. Sie zeigen uns auf, wie Co-Forschende mit Beeinträchtigungen, Fachpersonen und Wissenschaftler:innen auf Augenhöhe zusammenarbeiten können. Sie sind Vorbild für die partizipative Zusammenarbeit aller Personen. Ich plädiere dafür, dass solche Co-Forschungsteams optimal wären, um die Qualität der Organisationen der Sozialen Arbeit zu überprüfen. Die finanzierenden Kantone täten gut daran, nach dem Vorgehen von und gemeinsam mit dem Team SEGEL die leistungserbringenden Institutionen zu überprüfen. Als Fachpersonen der Sozialen Arbeit müssen wir gegenüber politischen Entscheidungsträger:innen und anderen Disziplinen für die Partizipation von Adressat:innen einstehen und deren politische Rechte einfordern. Das Team SEGEL zeigt uns dabei auf, mit welchen Methoden dies gelingen kann.
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